Donnerstag! Hier kommt der fünfte Text auf der Suche nach Gestalten in Käfigen.
Könnte es sein, dass die ausbruchsichersten Gefängnisse gar nicht aus Stahl und Beton bestehen, sondern aus Bildern und Erinnerungen gegossen sind? Und wo haben wir die Schlüssel für den Ausbruch versteckt?
Hier die vorhergehenden Texte:
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Gestalten in Käfigen, Teil 5
Den Flammen entkommen
Wir sind alle Gestalten in Käfigen. Käfige, gebaut und verschlossen durch unsere sterbliche Existenz, durch Traumen, durch Unfälle, Krankheit, durch die Gesellschaft und durch das soziale Geflecht, in dem und durch das wir uns bewegen. Käfige, gebaut und verschlossen durch die Familie, aus der wir kommen, Käfige gebaut und verschlossen von uns selbst, aus Angst, aus Faulheit, und weil wir es nicht besser wissen.
Jede der Parteien, die unsere Käfige gebaut hat und verschlossen, bewahrt die Schlüssel für die Schlösser an geheimen Orten auf, chiffriert mit Codes, die nur sie kennt. Manche der Verstecke können wir erraten, manche Codes herausfinden, manche der Türen gelingt es uns, zu öffnen – doch die meisten, und vor allem: Die wichtigsten Käfigtüren scheinen endgültig und unwiderruflich versiegelt zu sein, auch weil meist ausgerechnet wir diese Schlüssel unauffindbar vor uns selbst versteckt haben.
Wie entkommen? Wie die Sehnsucht nach der Freiheit stillen, wenn doch schon die verlorenen Schlüssel kaum auffindbar scheinen, und, liessen sie sich finden, wir fürchten, wie in Gefangenschaft geborene Tiere in der Wildnis kläglich zu verenden. Die Suche nach den Schlüsseln ist vielleicht unsere wichtigste Aufgabe – ob wir uns dann an den Ausbruch machen, hängt an vielem, vor allem wohl an unserem Mut. Oder an der Angst, je nachdem, in welche Richtung wir schauen.
Vor ein paar Tagen ein Traum:
Ich bin in einen Raum eingesperrt. Ich sehe durch die Wände hinaus. Ein Käfig. Draussen lodert Feuer. Ich habe keine Möglichkeit, auszubrechen. Ich sehe die Flammen näher kommen, spüre ihre Hitze. Bald umgeben die Flammen den Käfig ganz, das Brennen auf der Haut wird unerträglich. Ich atme heisse Luft, atme die Flammen ein. Versuche, um Hilfe zu rufen, aber natürlich hört mich niemand. Das Bewusstsein, dass das das Ende ist, ist glasklar.
Als ich aufschrecke, dauert es eine Weile, bis ich begreife, in welcher Realität ich mich befinde. Dass ich lebendig bin und in Sicherheit. Ich habe grossen Durst, eine ausgedörrte Kehle. Auf dem Weg in die Küche merke ich, dass ich, mein Kopf hatte sich gestern bis spätabends leergedacht, beim Zubettgehen vergessen hatte, die Heizung abzudrehen und das Fenster zu öffnen. Ich atme tief durch. Die kalte Luft gibt mir Leben zurück. Ich trinke, gehe ins Bad, endlich zurück ins Bett. 03:24.
Ich versuche weiterzuschlafen, aber der Traum hat mich aufgewühlt und lässt mir keine Ruhe. Immer wieder sehe ich mich in meinem Käfig. Sehe die Flammen. Immer wieder komme ich an diesen Moment des Sterbens, und plötzlich erinnere ich mich an eine horrende Nachricht, die mich vor Jahren für mehrere Tage in einen fürchterlichen Zustand versetzt hatte: ein jordanischer Militärpilot, Geisel des sogenannten Islamischen Staates, war vor aller Augen in einen Käfig gesperrt und darin bei lebendigem Leib verbrannt worden.
Sowohl der Traum als auch die Erinnerung an die Nachricht gehen mir weiter nach: Es stellt sich heraus, dass die brutale Folterung und Ermordung von Muadh al-Kasasbeh zehn Jahre zurückliegt1. Kein Zweifel, dass die Bilder2, die sich mir damals eingeprägt haben, mir heute diesen Traum bescheren. Schlafassoziationen mit der ungewöhnlichen trockenen Wärme im Zimmer und meiner ausgedörrten Kehle, wohl auch mit Lebens- und Sterbensfragen im Denken und Schreiben der letzten Tage und Wochen.
Ich frage mich, in welche Art von inneren Käfigen uns die Bilder sperren, die wir täglich konsumieren. Wenn eine einzelne Nachricht, die zehn Jahre zurückliegt3 mich derart prägen und gefangennehmen kann: Was bedeutet das für die Masse von Bildern, die in jedem Moment auf uns einprasseln? Was für Käfige bauen sich ständig um uns herum auf durch diese Bilder und durch die Assoziationen, die unser Hirn daraus herstellt?
Wir scheinen kontinuierlich ein Gespinst zu fabrizieren aus feinen Fäden, die sich von Bild zu Bild ziehen, das wir sehen, hören, aufnehmen, verarbeiten, von Assoziation zu Assoziation. Eine Art Kokon, der uns, je mehr Bilder auf uns einprasseln, immer enger umschliesst, bis er uns endlich die Luft zum Atmen nimmt und uns erstickend aufschrecken lässt in der Nacht.
Innere Bilder: Weder damals noch sonst habe ich mir Fotos oder Videoaufnahmen von solchen Begebenheiten gesehen, schaue auch keine Nachrichten im Fernsehen (habe gar kein Fernsehen) oder Videos im Netz. Die Information war mir durch Worte zugekommen.
… und die nichts mit mir zu tun hat, im Sinne: Ich kannte die Person, der das zugestossen ist, nicht, und das Ereignis fand in einer anderen Welt statt, nicht in meiner näheren oder persönlichen Umgebung.